Man muss die Muster des Narzissmus erkennen
„Label sind für Dosen, nicht für Menschen!“, heißt es. Normalerweise würde Turid Müller dieser Redensart voll und ganz zustimmen. Aber im Fall des Narzissmus möchte sie dafür warnen: „Diagnosen und andere Begrifflichkeiten helfen, Muster zu erkennen, um handlungsfähig zu werden. Und in Bezug auf narzisstischen Missbrauch bringt die Erkenntnis, endlich einen Namen für das Erlebte zu haben, oft den entscheidenden Durchbruch.“ Sollte ein Mensch bei dem Wort „Narzissmus“ Hemmungen haben, so sei ihm versichert: Das ehrt ihn. Aber in diesem Fall hilft es ihm nicht weiter. Möglicherweise kann der Gedanke entlasten, dass man gar keine Fremddiagnose machen muss. Die Muster erkennen und benennen zu können reicht aus. Turid Müller gebraucht das Wort „Narzissmus“ also nicht als Diagnose, sondern deskriptiv: als Überbegriff für die typischen Verhaltensweisen. Turid Müller ist Diplom-Psychologin und ausgebildete Schauspielerin.
Schon starke narzisstische Anteile beeinträchtigen das Umfeld
Übrigens: Ein Mensch braucht nicht die diagnostischen Kriterien für ein voll ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitsstörung zu erfüllen. Turid Müller weiß: „Schon starke narzisstische Anteile sind ausreichend, um das Umfeld zu beeinträchtigen. Diese Einsicht ist relativ neu und gerade erst dabei, ihren Weg ins Bewusstsein des Gesundheitswesens zu finden.“ Bislang wurde die zerstörerische Wirkung solcher Beziehungen weitgehend unterschätzt.
Narzisstische Menschen bevorzugen als Opfer besonders Menschen mit ausgeprägten empathischen Eigenschaften. Diese zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie sich selbst ständig hinterfragen. Turid Müller fügt hinzu: „Sie wachsen gern, sind kritikfähig und wollen für ihr Umfeld, mit dem sie intensiv fühlend verbunden sind, nur das Beste.“ In toxischen Beziehungen wird diese Eigenschaft ausgenutzt. Narzisstische Menschen projizieren unliebsame Eigenschaften nicht selten auf ihr Umfeld und werfen ihren Opfern ihre eigenen Verfehlungen vor.
Typischerweise fühlen sich die Opfer wie in einem Nebel der Unklarheit
Die zerstörerische Kraft von narzisstischen Manipulationen wird in der Literatur zuweilen mit Geheimdiensttechniken verglichen: Typischerweise fühlen sich die Opfer wie in einem Nebel der Unklarheit. Turid Müller ergänzt: „Entscheidungen zu treffen wird immer schwieriger – das betrifft fit große „Bleiben oder gehen“-Frage genauso wie die Auswahl von Konserven im Supermarkt.“ Man wird psychisch und physisch labiler, zweifelt an sich und seiner Einschätzung der Situation.
Zuweilen kann das so weit gehen, dass man buchstäblich den Eindruck hat, verrückt zu werden, und sich in Behandlung begibt. Die Symptome von Menschen in narzisstischen Beziehungen sind vergleichbar mit denen von Kriegsgefangenen. Abstand tut gut: Oft sind toxische Beziehungen derart verstrickt, dass es kaum möglich ist klar zu sehen. Turid Müller rät: „Daher kann es von Vorteil sein, etwas auf Distanz zu gehen: Meditiere; pflege Kontakte, die dich nähren; fahr am Wochenende allein ans Meer; unternimm nur etwas für dich oder zieh dich zu Hause immer mal zurück.“ Quelle: „Verdeckter Narzissmus“ von Turid Müller
Von Hans Klumbies