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Alle turnen am Abgrund des Todes entlang

Manche Menschen können sich selbst und andere aufgrund einer psychischen Erkrankung in Gefahr bringen. Im Fachjargon heißt das: Sie sind selbst- oder fremdgefährdend. Diese Menschen können auch gegen ihren Willen über das zuständige Ordnungsamt in die örtliche Psychiatrie eingewiesen werden. So etwas kommt jedoch vergleichsweise selten vor. Manfred Lütz warnt: „Die Psychiatrie darf sich nicht dazu verleiten lassen, das Außergewöhnliche, das Exzentrische durch Diagnosen ruhig zu stellen. Wir alle turnen mehr oder weniger kunstvoll am Abgrund des sicheren Todes entlang.“ Normalerweise schauen Menschen da nicht hinein. Das heißt zwar nicht, dass man alle diese Menschen einfach für kurzsichtig erklären darf. Aber man darf diejenigen, die immer mal wieder in diesen Abgrund starren und dann etwas anders wirken als die meisten, deswegen nicht für verrückt erklären. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.

Friedrich Nietzsche war nicht wahnsinnig

Der große Denker Friedrich Nietzsche hat wie kaum ein anderer Mensch an den Grenzen der menschlichen Existenz gedacht, gedichtet und gelitten. Manfred Lütz stellt fest: „Es ist kein Zeichen von geistiger Souveränität, wenn manche Christenmenschen sein ganzes Denken am liebsten als Ausgeburt des Wahnsinns darstellen. Friedrich Nietzsche war nicht wahnsinnig.“ Nur am Ende seines Lebens litt er an den Folgen einer Hirnentzündung durch Syphilisbakterien. Das hat ihn dann zeitweilig verwirrt.

Aber seine großen Gedankenexperimente waren überhaupt nicht verrückt, sondern die konsequenteste Ausformulierung eines leidenden Atheismus. Nicht dieses Denken hat Friedrich Nietzsche in den Wahnsinn getrieben, wie es manche gerne hätten, sondern es waren kleine Bakterien, die sein Gehirn zerstörten. Es ist ein Mythos von missgünstigen und kleingeistigen Stammtischphilosophen, dass zu viel Denken einen Menschen wahnsinnig machen kann.

Die wenigsten Gedanken sind krank

Die Psychiatrie kennt so etwas nicht. So eignet sie sich nicht für die Entschärfung schwieriger oder gefährlicher Gedanken. Wenige Gedanken sind richtig, viele Gedanken sind falsch, aber die wenigsten Gedanken sind krank. Genie und Wahnsinn, das gehe häufig zusammen, meint der Volksmund. Doch da hat er ausnahmsweise einmal Unrecht. Manfred Lütz erklärt: „Menschen, die Geniales vollbringen, sind zwar nicht normal, aber deswegen noch lange nicht verrückt.“

Im Gegenteil, um Großes zu vollbringen, muss man seine Tassen im Schrank ziemlich geordnet haben. Zwar sind auch „Wahnsinnige“ bisweilen zu genialen Produktionen in der Lage, aber am ehesten dann, wenn die Krankheit nicht akut ist. Es wird mitunter übertrieben viel Aufhebens von der Kunst psychisch Kranker gemacht. Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg ist legendär. Und doch ist nicht das Verrückte selbst das Künstlerische. Psychisch kranke Künstler sind in der Regel nicht wegen, sondern trotz ihrer psychischen Krankheit kreativ. Auch wenn sie sie psychische Erkrankung vielleicht unmittelbarer mit ihren existenziellen Tiefen in Berührung gebracht haben mag. Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz

Von Hans Klumbies

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