Psychische Störungen haben viele Ursachen
Man kann ausnahmslos alle psychischen Phänomene genauso gut unter einer lebensgeschichtlichen Perspektive betrachten. Ereignisse aus jüngster Zeit kann man für die Ursache der psychischen Störung halten. Das ist genau so wenig widerlegbar wie eine biologische Hypothese. Manfred Lütz weiß: „Übrigens ist das die häufigste Sichtweise der Patienten und ihre Angehörigen.“ Eine Depression kann als Folge einer Ehekrise oder eines Berufskonflikts, einer Auseinandersetzung mit Freunden oder Nachbarn gesehen werden. Der schizophrene Wahn könnte als Folge von Mobbing auftreten. Man könnte sogar unwiderlegbar behaupten, die psychischen Symptome nach einer organischen Hirnschädigung seien im Wesentlichen von Ereignissen der vergangenen Wochen geprägt. Auch das ist niemals wahr oder falsch. Auch das ist im jeweiligen Fall unter therapeutischen Gesichtspunkten bloß mehr oder weniger nützlich. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.
Eine phasenhafte Depression tritt oft unvermittelt auf
Manfred Lütz nennt ein Beispiel. Ein Patient kommt wegen einer schweren phasenhaften Depression, bei der der genetische Faktor eine große Rolle spielt, in Behandlung. Die Form der Depression tritt oft ganz unvermittelt auf. Plötzlich erwacht der bis dahin unauffällige Patient morgens depressiv, ist verzweifelt, sieht keinen Ausweg mehr und ist durch kein Gespräch zu beruhigen. Jeder Hinweis auf die in Wirklichkeit glückliche Lebenssituation prallt ab, führt bloß noch zu Selbstvorwürfen.
Wer mit einem solchen Patienten spricht, kann fast den Eindruck bekommen, gegen Moleküle anzureden. Argumente erreichen ihn gar nicht. In einem solchen Fall ist die biologische Perspektive für alle Beteiligten in der Regel die angemessenste und nützlichste. Denn sie vermeidet den Irrtum, dass an dieser Depression irgendjemand „schuld“ ist. Manfred Lütz ergänzt: „Nicht der Patient, aber auch nicht die Angehörigen, die sich nicht selten furchtbare Vorwürfe machen, weil sie vielleicht einige Tage zuvor eine banale Auseinandersetzung mit dem Kranken gehabt haben.“
An einer Depression ist niemand schuld
Und dann gibt es da noch eine Sorte Verwandte, die etwa 150 Kilometer entfernt wohnen, nichts Genaues, dafür aber alles besser wissen. Die nehmen eine solche Krise gern zum Anlass, über die angeblich so herzlose Ehefrau herzuziehen. Das ist eine besondere Frechheit, denn die Ehefrau ist nach dem Patienten das zweite Opfer der Erkrankung. Sie leidet mit, fühlt sich völlig hilflos und untergründig tatsächlich oft auch schuldig. Da muss der Therapeut mit aller zur Verfügung stehenden Autorität erklären, dass an dieser Depression niemand, wirklich niemand, schuld ist.
Manfred Lütz betont: „Er muss erklären, dass das eine Stoffwechselerkrankung ist, die man gut behandeln kann, indem man den Stoffwechsel mit Medikamenten beeinflusst, und die mit großer Wahrscheinlichkeit gänzlich heilbar ist.“ Das heißt natürlich nicht, dass irgendwelche Ereignisse im Vorfeld der Depression nicht doch gewisse Einflüsse insbesondere auf die besondere Färbung der Depression haben könnten. Doch die wesentliche und vor allem die mit Blick auf die Therapie nützlichste Perspektive ist in diesem Fall die biologische. Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz
Von Hans Klumbies