Krankheiten haben auch ihre guten Seiten
Gewiss, man stutzt, wenn es heißt, man verdanke etwas einer Krankheit. Manfred Lütz betont: „Doch es ist eine Tatsache, dass selbst die schwere psychische Krankheit nicht nur ihre leidvollen, sondern auch ihre guten Seiten hat. Für viele Patienten, die längst wieder gesund sind, stellt sich ihre kranke Phase im Nachhinein als positiver Wendepunkt in ihrem Leben dar.“ Sie verklären die Krankheit nicht, dazu besteht kein Anlass, aber sie reihen sie in die abenteuerlichen Wegstrecken ihres Lebens ein, die auch zu mancher wichtigen Erkenntnis beigetragen haben. Es klingt banal, aber wer einmal überraschend eine depressive Phase erlitten hat, der kann nie mehr unvorbereitet in eine Depression stürzen. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.
Ehemals Kranke kosten helle Lebensphasen voll aus
Vielleicht geht der Betroffene jetzt dankbarer und intensiver mit allen hellen Lebensphasen um als ein immer Gesunder, dem alles in gleicher trüber Beleuchtung vor dem Auge vorbeizieht. Wer in einem schizophrenen Schub akustische Halluzinationen erlebt hat, der hat da eine kaum überbietbare Lebensintensität gespürt. Das ist auch Leid, aber es gibt Menschen, die sogar das als Bereicherung ihres Lebens verstehen und annehmen. Genau das versuchen auch die modernen Methoden von Psychiatrie und Psychotherapie zu tun.
Das Störende der Störung, das Kranke der Krankheit, das Belastende der Belastung, das sieht der Patient meist selber zur Genüge, wenn er erstmals in Behandlung kommt. Manfred Lütz erklärt: „Da ist es Aufgabe des professionellen Therapeuten, die Beleuchtung zu ändern und ihre Perspektive so zu wechseln, dass eine nützlichere Sichtweise zustande kommt, die zu Lösungen führt.“ Von der Kinderpsychiaterin Thea Schönfelder stammt der berührende Satz: „Was mich von meinen psychotischen Mitmenschen unterscheidet, ist meine Möglichkeit, ihn „heiler“ zu sehen, als er es selbst vermag.“
Der Wahnkranke kann seine Perspektive nicht wechseln
Diese nützlicher Perspektive kann dann die Fähigkeiten und Kräfte des Patienten ins Licht stellen, die er früher bewiesen, jetzt in der Krise aber ausgeblendet hat. Denn womit soll der Patient die Krise lösen? Gewiss nicht mit den Fähigkeiten, die er gerne hätte, sondern nur mit den Fähigkeiten, die er einmal hatte. Manfred Lütz weiß: „Die Unfähigkeit, die Perspektive zu wechseln, wird psychiatrisch als Wahn bezeichnet. Der Wahnkranke kann die ganze Welt nur unter dem beherrschenden Gesichtspunkt sehen, dass zum Beispiel der Nachbar ihn mit Kameras überwacht, mit Autos verfolgen lässt und mit energiereichen Strahlen quält.“
Von diesen Gedanken ist er mit keinem vernünftigen Argument abzubringen, obwohl er ansonsten ganz rational reagiert. Ideologien haben ebenfalls etwas Wahnähnliches. Sie sehen die Welt nur unter einer bestimmten Perspektive. Und auch die Psychiatrie ist ideologieanfällig. Psychiatrische oder psychologische Schulen sehen den Menschen gern unter nur einem Gesichtspunkt. Doch neuerdings ist man zur Einsicht gelangt, dass gerade die Möglichkeit zum Perspektivwechsel den guten Therapeuten auszeichnet. Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz
Von Hans Klumbies