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Mattias Desmet kennt die Bedeutung der Stimme

Die Stimme ist im wahrsten Wortsinn von vitaler Bedeutung, besonders in früherster Jugend. Fehlt sie, ist dies zweifellos tödlich für das junge Kind. Mattias Desmet weiß: „Der österreichische Psychiater René Spitz untersuchte zwei Gruppen von Kindern, deren biologische Bedürfnisse – Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft usw. – auf dieselbe Weise befriedigt wurden, von denen die eine Gruppe jedoch eine stabile psychische Bindung zu einer Mutterfigur hatte und die andere nicht. Er fand heraus, dass die Sterblichkeitsrate in letzterer Gruppe signifikant höher war.“ Diese subtil-physische Dimension sprachlichen Austauschs bleibt auch im späteren Leben wichtig. Während des Sprechens spiegeln Erwachsene, genau wie junge Kinder, ohne sich dessen bewusst zu sein, ständig den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung des Gesprächspartners. Mattias Desmet ist Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent.

Gesprächspartner verfügen über eine erstaunlich direkte Verbindung

Dies geschieht durch eine Art innere Imitation, durch leichtes Ansteigen der Muskelspannung, das meist nicht äußerlich wahrnehmbar ist. Mattias Desmet erklärt: „Aber das genügt vollkommen, um in einer unmessbar kurzen Zeitspanne die Erfahrungswelt des Anderen zu registrieren – dass er Schmerzen hat, traurig oder froh ist oder eventuell nur so tut als ob usw. – und mehr oder weniger zu übernehmen.“ Das führt zu einer erstaunlich direkten Verbindung zwischen Gesprächspartnern.

Menschen reagieren in Gesprächen unwahrscheinlich schnell aufeinander. Wenn die eine Person aufhört zu sprechen, übernimmt die andere gewöhnlich innerhalb von weniger als 0,2 Sekunden. Mattias Desmet ergänzt: „Und das geschieht sogar, wenn der Gesprächspartner seinen Satz nicht beendet, man also anhand der Satzstruktur überhaupt nicht vorhersagen kann, wann er aufhören wird zu reden.“ Menschen, die miteinander sprechen, haben durch Wahrnehmen kleinster Änderungen in Intonation, Stimmtimbre, Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Sprechtempo usw. ein sehr feines Gespür füreinander.

Digitale Interaktionen wirken zäh und gebremst

Sie bilden, wie schwärmende Stare, gleichsam „einen“ Organismus. Sie sind durch eine psychische Membran verbunden, welche die geringste Kräuselung in Körper und Seele auf den anderen überträgt. Mattias Desmet erläutert: „Bei jedem Austausch von Worten – wie banal auch immer – erweisen sich Menschen als perfekte Tanzpartner, die sich zur zeitlosen Musik der Sprache subtil physisch miteinander vereinen. Wir betreiben die Liebe häufiger, als wir ahnen.“

Dieses komplexe Phänomen erfährt eine wesentliche Verarmung, wenn es digitalisiert wird. Mattias Desmet fügt hinzu: „Digitale Interaktionen sind immer mit einer gewissen Verzögerung verbunden. Sie schließen bestimmte Aspekte des Kontakts aus – zum Beispiel Wärme und Geruch – sind selektiv – man sieht nur das Gesicht –, unterliegen der unangenehmen ständigen Bedrohung, dass die Verbindung unterbrochen werden könnte usw.“ Sie werden daher nicht nur als gebremst und zäh empfunden, sie geben einem Menschen auch das Gefühl, den Anderen nicht wirklich physisch spüren zu können. Quelle: „Die Psychologie des Totalitarismus“ von Mattias Desmet

Von Hans Klumbies

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