Menschen interpretieren Dinge fast nie isoliert
Meistens begegnen Menschen die verschiedensten Dinge in einem bestimmten Zusammenhang. Und sie haben alle eine große Anzahl von komplexen Erinnerungen und Schemata – intuitive Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert. Julia Shaw erklärt: „Fast nie interpretieren wir einen Gegenstand isoliert, sondern bringen Erinnerungen in unsere Deutung der Welt ein.“ Wenn man eine Blume anschaut, sieht man nicht einfach Formen und Farben. Sondern man weiß auch, dass man Teile einer Pflanze sieht, die man „Blume“ nennt, und dass man sie im Allgemeinen nicht essen kann. Man weiß auch, dass die Blume im Raum existiert und den Gesetzen der Schwerkraft unterliegt. Diese Fähigkeit, relativ elementare Informationen zu interpretieren und in einen Sinnzusammenhang zu bringen, ist überraschend komplex und von Erinnerungen abhängig. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
Die Wahrnehmung ist ein fließender Prozess
Menschen verfügen also über die erstaunliche Fähigkeit, Informationen aus einem sehr begrenzten Input von Daten zu extrapolieren. Der Sehsinn zum Beispiel hat sich zu dem Zweck entwickelt, die Reize aus der Umgebung interpretieren zu können. Julia Shaw erläutert: „Er wurde von unserer Erfahrung mit der natürlichen Welt geschärft, die unser Verständnis und unsere Erwartungen geprägt hat.“ Im Wesentlichen stellt ein Mensch fundierte Vermutungen über die von ihm wahrgenommene Welt an. Diese beruhen auf seinen bisherigen Erfahrungen.
Das ist bei Licht besehen eine überlebenswichtige Fähigkeit. Schon seit prähistorischer Zeit mussten Menschen häufig Entscheidungen auf der Grundlage begrenzter Informationen treffen. Folglich beschreitet man bei der Interpretation der Welt einen Weg, den man als vernünftige Abkürzung ansieht. Julia Shaw stellt fest: „Wir erleben Wahrnehmung nur deshalb als kohärenten und fließenden Prozess, weil unser Gehirn fortwährend begründete Vermutungen anstellt. Damit füllt es die Informationslücken.“
Menschen unterliegen Täuschungen der Wahrnehmung
Meistens ist die automatische Einbeziehung des Gedächtnisses bei Annahmen und begründeten Vermutungen hilfreich. Denn dadurch ist man viel schneller in der Interpretation der verschiedenen Reize aus der Umgebung. Und diese Einschätzungen sind normalerweise zutreffend. Die Erinnerungen an bisherige Erfahrungen beeinflussen nicht nur, welches Verhalten man von anderen Menschen erwartet. Sie prägen ganz allgemein die persönliche Auffassung davon, wie die Welt funktioniert – Schwerkraft, Dimensionen, Möglichkeiten.
Ebenso wie einen Menschen der erste Eindruck von einem Gesicht täuschen kann, kann man von generellen Täuschungen der Wahrnehmung hereingelegt werden. Diese nutzen beispielsweise Zauberer. Julia Shaw erklärt: „Wenn unsere Wahrnehmung in irgendeiner Weise in die Irre geführt wurde und wir dies nicht merken, dann können die Vermutungen, die unser Gehirn anstellt, um uns beim Verständnis der Welt zu helfen, sogar genau den entgegengesetzten Effekt haben und unsere Erinnerungen schon von vornherein fehlerhaft anlegen.“ Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw
Von Hans Klumbies