Lebewesen sind in Ökosysteme eingebettet
Das Erkennungsmerkmal einer Gesellschaft, die den Zugang zur Empathie verloren hat, ist der Zynismus. Zyniker pflegen die Empathie als „Gefühlsduselei“ zu bezeichnen und ins Lächerliche zu ziehen. Dass die Menschen der Natur empathisch gegenübertreten können, hat nicht nur evolutionsbiologische, sondern weitere triftige biologische Gründe. Joachim Bauer erklärt: „Jedes Lebewesen dieser Erde – Virus, Einzeller, Pflanze, Baum, Tier oder Mensch – stellt für sich eine biologische Einheit dar. Diese ist in ein jeweils größeres System, in eine größere biologische Einheit eingebettet.“ Am deutlichsten wird das am Beispiel des in den Organismus einer schwangeren Frau eigebetteten Fötus. Obwohl ihm noch jeglicher Verstand fehlt, fühlt er, wie es ihr geht und umgekehrt. Beide sind sich empathisch – im Sinne gegenseitiger Einfühlung – verbunden. Joachim Bauer ist Arzt, Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Bestsellerautor von Sachbüchern.
Das Zeitalter des „Anthropozän“ hat begonnen
In ganz ähnlicher Weise ist die Menschheit als Ganzes in die Natur, in das Ökosystem der Erde, in die Welt, in der sie lebt, eingebettet. Pandemien und Klimakatastrophen sind Menetekel und Warnbotschaften. Diese sollen die Menschen daran erinnern, dass sie die wechselseitige Verbundenheit, die eingebettete und einbettende Systeme sich gegenseitig schulden, offenbar aus den Augen verloren haben und wiederentdecken müssen. Was das aktuelle Zeitalter von allen vorherigen unterscheidet, ist eine wechselseitige Einbettung von Natur und Menschheit.
Die Menschheit hat inzwischen ein technisches Potenzial erreicht, um die gesamte Oberfläche der Erde zu verändern. Und die mit diesen Fähigkeiten tatsächlich in Gang gesetzten Eingriffe in die Natur sind derart gewaltig, dass sie – obwohl menschengemacht – inzwischen selbst einer Naturgewalt gleichen. Dieses Faktum hat den Begriff des „Anthropozän“ entstehen lassen. Mit ihm soll der Beginn eines Zeitalters angezeigt werden, in welchem die menschliche Zivilisation der Erde ihren prägenden Stempel aufdrückt.
Die Natur ist zum Schützling der Menschheit geworden
Der zivilisatorische Furor der menschlichen Spezies hat gewaltige Veränderungen in Gang gesetzt. Diese bezeichnet man als „Great Acceleration“, also als große Beschleunigung. Sie haben eine derartige Größenordnung erreicht, dass seit Kurzem nicht nur mehr die Menschheit in die Natur eingebettet ist, sondern die Natur sich ihrerseits in das globale Regime der Spezies Mensch eingebettet findet. Die Menschheit ist also nicht mehr nur – wie seit Jahrhunderttausenden – ein Schützling der Natur.
Die Natur ist neuerdings in einem derartigen Ausmaß dem zivilisatorischen Regime unterworfen, dass sie nun umgekehrt zum Schützling der Menschheit wurde. Joachim Bauer stellt fest: „Beide, Menschheit und Natur, stehen nicht nur in einer wechselseitigen existenziellen Abhängigkeit. Beide Seiten fühlen nicht nur, wie es dem eigenen Organismus, sondern auch, wie es dem der anderen Seite geht.“ Keiner Seite wird es gut gehen, wenn es nicht beiden gut geht. Geht es einen von beiden schlecht, wird es beiden schlecht gehen. Gegenseitige Einfühlung und Empathie werden damit zu einer Voraussetzung gemeinsamen Überlebens. Quelle: „Fühlen was die Welt fühlt“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies