Scham hat immer einen fassbaren Grund
Scham, Schämen und Beschämung gehören zum großen Kreis dessen, was die Kränkung erfasst. Reinhard Haller erläutert: „Wenn man sich schämt oder beschämt wird, leidet man an einem Zustand des Unwohlseins, der Peinlichkeit, der Unruhe, der Depressivität. Man fühlt sich unsicher, schuldig und bloßgestellt, man ist gekränkt.“ Die Auslöser dieser Kränkungsreaktion sind in Mängeln, Fehlern oder Peinlichkeiten, im Verletzten basaler Gebote oder in gesellschaftlich nicht akzeptierten Verhaltensweisen zu sehen. Wenn aufgezeigt wird, dass persönliche Ziele nicht erreicht, Erwartungen der Mitmenschen nicht erfüllt und gesellschaftliche Normen nicht eingehalten worden sind, fühlt man sich beschämt. Kränkungen können völlig unbewusst, ohne eigenes Zutun und ohne wesentliche Fehler ausgelöst werden. Schämen hat immer einen fassbaren Grund, der aber nicht unbedingt mit Schuld zu tun haben muss. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.
Scham ist ein tief verankerter Instinkt
Durch die Scham wird das Individuum infrage gestellt und sieht sich in der sozialen Wertschätzung, in seiner Akzeptanz und Anerkennung bedroht. Scham ist stets mit den Gefühlen des Bedrohtseins und der Angst verbunden. Scham ist ein tief verankerter Instinkt, den es wie Gekränktheit auch im Tierreich gibt. Wie sehr Scham mit dem Menschsein verbunden ist, zeigt ihre frühe Erwähnung im Alten Testament. In der im Buch Genesis enthaltenen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies wird die ganze Psychologie der Scham in wenigen Sätzen beschrieben.
Reinhard Haller erklärt: „Am Beginn steht die Übertretung eines Verbots beziehungsweise die persönliche Schwäche, einer Versuchung nicht widerstanden zu haben. Die Scham öffnet die Augen und liefert neue Erkenntnisse, indem man zwischen Gut und Böse unterscheiden kann.“ In erster Linie macht sie aber die eigene Verletzlichkeit bewusst und motiviert dadurch letztlich zu einer zivilisatorischen Leistung. Sie erfordert Rechtfertigung und wird mit der Vertreibung aus dem Paradies geahndet.
Scham kann auch „stellvertretend“ auftreten
Im menschlichen Erleben wird Scham als „peinlich“, demütigend und kränkend empfunden. Scham fühlt sich für den Betroffenen wie eine unerwartete Bloßstellung, wie die Aufdeckung eines Defizits oder einer Schuld an. Man sieht sich in seiner Intimität verletzt und den Blicken des anderen wie unter einem Vergrößerungsglas ausgesetzt. Scham tritt auch auf, wenn man in der persönlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung gleichsam auf eine frühere Stufe zurückfällt.
Deshalb sind auch animalische Vorgänge wie Nahrungsaufnahme, Verdauung, Ausscheidung oder Sexualität mit Scham besetzt, selbst wenn sie in kultivierter Form erfolgen. Scham kann auch „stellvertretend“ auftreten, indem man sich für nahe Angehörige oder sonst nahestehende Personen schämt. Der Ausdruck „Fremdschämen“ wurde in Österreich im Jahr 2010 sogar zum „Wort des Jahres“ gekürt. Andere Ausdrücke für Scham sind Peinlichkeit, Verlegenheit, Scheu oder Verschämtheit. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies