Schweigen kann tödlich sein
Schweigen gilt gemeinhin als Tugend und gegenüber dem Silber der Rede als sprichwörtliches Gold. Wie kann es dann aber im wahrsten Sinne des Wortes tödlich sein? Reinhard Haller stellt fest: „Da wir in einer Welt der Worte leben, hat das Schweigen eine besondere Bedeutung. Durch Schweigen kann man auch antworten. Schweigen ist, wenn man so will, eine spezielle Form des Miteinander-Redens und hat eine besondere kommunikative Qualität.“ Im Schweigen kann man tiefe Gefühlszustände erleben und ohne Worte viel sagen. Schweigendes Kommunizieren kann ein Ausdruck höchster Vertrautheit sein. Schweigen kann aber auch zur tödlichen Waffe werden. Aggressives Schweigen heißt, den anderen zu ignorieren, ihn auszublenden, ja seine Existenz zu verleugnen. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.
Schweigen kann zur Wurzel des Bösen mutieren
Geschwiegen wird aus Unsicherheit und Angst, aus Vorsicht und Misstrauen, aus Zurückhaltung und Respekt. Schweigen wird zur Buße oder als Strafe verhängt, es dient dem Schutz der Vertraulichkeiten oder der Aussageverweigerung, es kann erzwungen oder freiwillig sein. Durch Gerichtsurteile werden manche Menschen zum Schweigen verurteilt, andere durch Mächtige zum Schweigen gebracht, wieder andere erlegen sich selbst durch ein Schweigegelübde ein permanentes oder vorübergehendes Sprechverbot auf.
Schweigen kann situationsbedingt erforderlich sein und bedeutet oft eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Reinhard Haller warnt: „Verhängnisvoll wird das Schweigen dann, wenn es zur Verweigerung des Dialogs eingesetzt wird. Die Tugend des Schweigens mutiert somit zu einer wichtigen Wurzel des Bösen.“ Schweigen bedeutet dann, den anderen nicht zu beachten und nicht ernst zu nehmen, sich für seine Gedanken nicht zu interessieren und ihm den Wert des Wortes vorzuenthalten. Wenn man dem anderen kein Wort mehr gönnt, drückt dies aus, dass er keinen Wert hat oder gar nicht existiert.
Jeder Konflikt wird durch Schweigen verschärft
Während sich der andere bei der offenen Kommunikation ernst genommen sieht, fühlt er sich durch Verweigern des Dialogs gelähmt und hilflos. Er kann sein Ansichten nicht kundtun, keine Lösungsvorschläge unterbreiten und keine Rechtfertigungen geben. Selbst das jedem Angeklagten zugestandene Recht, angehört zu werden, wird verweigert. Dies löst beim Opfer generelle Verunsicherung, in der Anfangsphase auch Schuldgefühle aus, später dann den Wunsch, sich zur Wehr setzen zu wollen.
Reinhard Haller weiß: „Jeder Konflikt wird durch Schweigen verschärft, bewirkt das Aufkommen negativer Gedanken und fördert die Ausgestaltung destruktiver Fantasien.“ Das Opfer setzt sich gegen die Ablehnungen und Kränkungen zur Wehr, es will seinen Standpunkt hinausschreien und den Schweigenden zum Zuhören zwingen. Der Mensch als sprechendes Wesen will Worte der Erklärung, Worte des Verständnisses oder solche der Entschuldigung. Quelle: „Das Böse“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies