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Selbstentfremdung prägt die moderne Welt

Die moderne, schnelllebige, technisierte und an den Erfordernissen des globalen Kapitalismus ausgerichtete Welt hat eine Selbstentfremdung möglich gemacht, die Georg Milzner erschreckt. Diese Selbstentfremdung ist nicht überall akut und sie betrifft nicht jeden. Aber das ist bei Epidemien auch so und macht diese nicht weniger gefährlich. Entscheidend ist nur, dass die Problematik ganz offenbar immer weitere Kreise zieht und dadurch den Status einer gesellschaftlichen relevanten Problematik bekommt. Georg Milzner erklärt: „Gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder lassen erkennen, was im Unbewussten einer Lebensform gärt und arbeitet. Sie verweisen auf die Fehler dieser Lebensform, die von den Betroffenen nicht beachtet werden oder sie in ihrem Handlungsspektrum überfordern.“ Das bedeutet zwar, dass jede betroffene Person zunächst einmal individuell leidet. Es bedeutet aber auch, dass ihr Leiden nicht ihr Privatproblem ist. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Die Psyche spiegelt das Verdrängte der jeweiligen Epoche

Jede Zeit bringt spezifische Störungsbilder hervor, die sich aus den Lebensbedingungen ergeben. Diejenigen, die die Psyche und das menschliche Verhalten betreffen, sind dabei für Georg Milzner besonders faszinierend. Denn in ihnen spiegelt sich gewissermaßen der Untergrund, das Verdrängte der jeweiligen Epoche. Zu Sigmund Freuds Zeit zum Beispiel war die sogenannte hysterische Lähmung ein verbreitetes Phänomen. Diese bestand in der Unfähigkeit, sich zu erheben beziehungsweise zu gehen, obwohl die Person körperlich vollkommen gesund schien.

Sigmund Freud und sein Kollege Josef Breuer konnten zeigen, dass die Lähmung, die ausschließlich Frauen betraf, auf unerfüllten sexuellen Wünschen beruhte. Diese Wünsche durften nicht an der Oberfläche wahrgenommen, geschweige denn artikuliert werden, sie durften nicht bewusst sein. Georg Milzner ergänzt: „Denn Sigmund Freuds Zeit war die Epoche des Viktorianismus, eine Zeit, welche die Sexualität in heute kaum vorstellbarer Weise verdrängte. Insbesondere die weibliche Sexualität schien eine Terra incognita, ein nicht zu betretendes Land, während der männliche Sexus sich in Bordellen oder in außerehelichen Affären erging.“

Zu den aktuellen Leiden zählen Burn-out und Narzissmus

Die sexuelle Verkrampftheit der Viktorianer haben die Menschen heutzutage überwunden. Gleichwohl hat auch die Gegenwart Mechanismen ausgebildet, die krank machend sind. Und wie bei den Viktorianern werden sie unterschwellig gespürt, aber nicht beseitigt. Was so entstehen kann, sind Phänomene, die man als „kritische Leiden“ ansehen könnte. Zu diesen kritischen Leiden zählt Georg Milzner neben dem AD(H)S zum Beispiel die Burn-out-Problematik. Diese Störungsbilder sind allerdings nicht so „gestört“ wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Sie verweisen vielmehr auf ein tieferes Bedürfnis nach Selbstaufmerksamkeit und innerer Stimmigkeit. Das trifft auch auf die dritte seelische Problematik, die gegenwärtig als gesellschaftlich bedeutsames Leiden Raum gewinnt, zu. Georg Milzner spricht dabei vom Narzissmus. Er kompensiert vor dem Hintergrund der Medialisierung und der Funktionalisierung des Daseins jenes fehlende Wahrgenommenwerden, unter dem immer mehr Menschen zu leiden beginnen. Alle drei sind, wie es für gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder typisch ist, zugleich ein Leiden und ein Hinweis auf das, was zu ändern wäre. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies

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