Der Arbeiter wird manipuliert
Herbert Marcuse stellte eine Verbindung zwischen freudscher Verdrängung und dem marxistischen Entfremdungsbegriff her. Der Arbeiter wird dergestalt manipuliert, dass die Einschränkungen seiner Libido als vernünftige Gesetze erscheinen, die dann internalisiert werden. Stuart Jeffries erklärt: „Das Unnatürliche – dass es unsere vorherbestimmte Funktion sein soll, Waren und Gewinn für den Kapitalisten zu produzieren – wird für uns natürlich, zur zweiten Natur. Das Individuum definiert sich also in Übereinstimmung mit dem Apparat.“ Herbert Marcuse schrieb im Amerika der 1950er Jahre, zu einer Zeit, da, wie er annahm, Werbung, Verbrauchermentalität, Massenkultur und Ideologie die Amerikaner in eine friedliche Unterwerfung unter das Gesellschaftssystem der bürgerlichen Welt einbänden. Die amerikanischen Konsumenten wünschten sich Dinge, die sie eigentlich nicht brauchten. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.
Die Massenkultur und die faschistische Propaganda ähneln sich
Herbert Marcuse unterrichtete an amerikanischen Universitäten und hielt einen engen Kontakt mit seinen früheren Kollegen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Frankfurt am Main aufrecht. In wesentlichen Punkten ähnelten sich ihre Kritikansätze. Für alle drei war der holzschnittartige Individualismus der US-Gesellschaft, der während des Kalten Krieges rhetorisch gegen den Kollektivismus des Sowjetsystems ausgespielt wurde, ein Mythos. Denn die Amerikaner seien infantilisierte, unterdrückte Pseudoindividuen.
So verbrachte etwa Theodor W. Adorno während der Jahre 1952 und 1953 zehn Monaten in Kalifornien und analysierte Astrologiekolumnen in Zeitungen, im Radio ausgestrahlte Soap Operas und das neue Medium Fernsehen. Und was er dazu zu sagen hatte, war dem, was Herbert Marcuse in „Eros und Civilisation“ schrieb, durchaus verwandt. Theodor W. Adorno stellte für alle diese Formen der Massenkultur Parallelen zur faschistischen Propaganda fest. Beide würden die Abhängigkeitsbedürfnisse des pseudoindividuellen Charakters ansprechen und manipulieren.
Das Leben stellt widersprüchliche Anforderungen
Die Massenkultur und die faschistische Propaganda fördern konventionelle, konformistische und zufriedene Haltungen. War man selbst Amerikaner, dann muss einem das ungeheuerlich herablassend vorgekommen sein. Stuart Jeffries weiß: „Theodor W. Adorno lobte aber immerhin die Verfasser von Horoskopen für ihren Einfallsreichtum. Ihre Leser waren ja nicht völlig ahnungslos: Sie wussten aus ihrem eigenen Leben, dass nicht alles so rund läuft, wie die Kolumne es zu suggerieren scheint, und nicht alles erledigt sich von allein.“
Die Leser machten vielmehr durchaus die Erfahrung, dass das Leben widersprüchliche Anforderungen an sie stellte. Auf eine Art, die derjenigen der Nazipropagandisten vergleichbar ist, muss die Kolumne diese Widersprüche aufgreifen, wenn sie daran interessiert ist, dass die Leser bei der Stange bleiben. Eine Methode, wie die Verfasser von Horoskopen dies zustande brachten, war, dass sie für unterschiedliche Tageszeiten unterschiedlich Aktivitäten empfahlen: Der Vormittag gehöre der Arbeit, der Realität und dem Ich-Prinzip; der Nachmittag demzufolge den triebgesteuerten Antrieben des Lustprinzips. Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries
Von Hans Klumbies