Die Gesellschaft beschneidet die Triebe
Die Triebe streben nach Freisetzung, und die Gesellschaft musste, um überleben zu können, diese Freisetzung beschneiden. Erich Fromm hegte bereits in den 1930er-Jahren Bedenken gegen diese Lehre von Sigmund Freud. Denn seine Idee eines sozialen Charakters umfasste auch externe soziale Strukturen, die das innere Selbst prägen. Stuart Jeffries weiß: „Für Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, und später auch für Herbert Marcuse, war diese Revision von Freuds Auffassung allerdings sozial konservativ.“ Erich Fromm stufte den Stellenwert herab, den Sigmund Freud den frühkindlichen sexuellen Erfahrungen und dem Unbewussten zugeschrieben hatte. Deshalb warf ihm Herbert Marcuse vor, an einer „idealistischen Moral“ festzuhalten. Er merkte an, Fromms Aufruf zu Produktivität, Liebe und Gesundheit evoziere eben genau die Möglichkeit, die Freud ausgeschlossen hatte: dass es nämlich eine Harmonie zwischen dem Selbst und der Gesellschaft geben könne. Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.
Erich Fromm wirft Herbert Marcuse Nihilismus vor
Erich Fromms Revisionismus verharmloste nach Herbert Marcuses Meinung Sigmund Freuds Lehre und ging so der kritischen Schärfe der freudschen radialen Sozialkritik verlustig. Fromms „Weg zur Gesundheit“ biete lediglich Linderungsmittel für „ein geschmeidiges Funktionieren der bestehenden Gesellschaft“. Fromm konterte, dass Marcuse, indem er die Möglichkeit kreativer Produktivität, von Glück und wahrer Liebe im Kapitalismus leugne, undialektisch denke und seinen Pessimismus bis in den Nihilismus hinein weitertreibe.
Stuart Jeffries erklärt: „Er meinte, es gebe im Kapitalismus begrenzte Möglichkeiten der Selbsttransformation, die im Lauf der Zeit das hervorbringen könnten, was er als einen sozialistischen Humanismus bezeichnete.“ Herbert Marcuse behauptete, ein solcher Weg zur Gesundheit existiere nicht. Vielmehr setzte Erich Fromms Hinweis die Vorstellung eines autonomen Individuums voraus, das fähig sei, sich den herrschenden Gesellschaftsstrukturen zu entziehen.
Das Individuum ist „der psychologische Dorfladen“
Sigmund Freud hingegen war es darum gegangen, und die Kritische Theorie folgte ihm darin, dass eine solche Figur ein Mythos ist. Dieser war im 19. Jahrhundert im Frühkapitalismus erfunden worden und hat sich mittlerweile zu einem kompletten Anachronismus entwickelt, einem Atavismus aus präfreudianischer Zeit. Wer diesen Mythos immer noch heraufbeschwor, bediente damit zwangsläufig die Interessen der herrschenden Gesellschaft, die Erich Fromm ja doch angeblich kritisieren wollte.
In der „Dialektik der Aufklärung“ vergleichen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer das Individuum mit einem Dorfladen, der durch einen Supermarkt überflüssig wurde. Das Individuum sei „der psychologische Dorfladen“, der sich aus den Beschränkungen der Feudalzeit als „eine dynamische Zelle ökonomischer Aktivität“ entwickelt habe. Die freudsche Psychoanalyse „repräsentierte das innerliche Kleinunternehmen, das sich auswuchs … zu einem komplexen dynamischen System des Bewussten und des Unbewussten: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich“. Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries
Von Hans Klumbies