Theophrast zählt zu den Gründern der abendländischen Psychologie
Die Sammlung „Charaktere“ von Theophrast wird gerne als Bibel der westlichen Psychologie gehandelt. Die dreißig Charakterbilder, die Theophrasts Typologie umfasst, sind literarische Kleinode in moralphilosophischer Tradition. Natürlich war Sokrates, die Sophisten, Diogenes und manche anderen Philosophen allesamt auch Psychologen. Dies trifft auch auf die alten Tragödiendichter vor ihnen zu. Die ethische Frage, wie der Mensch sein und sich verhalten soll, nimmt ihren Ausgang von der Frage, was und wie er ist. Genauso sind die Ethiken des Aristoteles und seine Rhetorik zugleich psychologische Schriften. Ganz neu ist bei Theophrast nicht einmal das Stilmittel der Karikatur, das er mit wundervoller Kraft einsetzt. Schließlich gab es vor ihm einen Aristophanes und seine Komödien. Theophrast (um 371 – 287 v. Chr.) war Schüler von Platons Akademie.
Theophrasts Charakterstudien sind zeitlos
Dennoch handelt es sich bei den „Charakteren“ um eine kanonische Gründungsurkunde der abendländischen Psychologie. Zugleich weist sie dem Genre Karikatur einen herausragenden Rang zu. Diese Porträts sind ebenso lebensnah wie zeitlos. Ein Beispiel dafür ist der Unaufrichtige. Theophrast schreibt: „Unaufrichtigkeit ist wohl, der Definition nach, die Anmaßung einer negativen Auslegung von Taten und Worten zum Schlechteren. Der Unaufrichtige aber ist einer, der mit seinen Feinden, wo er sie trifft, zu reden, nicht ihnen seinen Hass zu zeigen pflegt.
Er lobt die ins Gesicht, die er heimlich angegriffen hat, und äußert sein Mitgefühl, wenn sie Prozess unterlegen sind. Er übt Nachsicht gegenüber dem was gegen ihn gesagt wird. Und überhaupt pflegt er solche Redensarten zu gebrauchen wie: „Glaube ich nicht“, „Begreife ich nicht“, „Ich bin erschüttert“, „Du sagst, er sei anders geworden“, „Dies hat er mir nicht erzählt“, „Die Sache scheint mir paradox“. Nichts von dem, was er gerade macht, gibt er zu, sondern sagt, er überlege noch. Er tut so, als sei er gerade erste gekommen, habe sich verspätet, sei krank.
Schmeichelei ist ein schändliches Benehmen
Ein anderes Beispiel für Theophrast zeitlose Porträts ist dasjenige des Schmeichlers. Unter Schmeichelei versteht man wohl ein schändliches Benehmen, das dem Schmeichler nützt. Der Schmeichler aber ist einer, der jemanden begleitet und sagt: „Merkst du, wie die Leute auf dich schauen? Das passiert keinem in der Stadt außer dir. Man lobte dich gestern in der Halle.“ Und wenn „er“ etwas sagt, befiehlt er den anderen zu schweigen, er lobt ihn, wenn „er“ es hört.
Bei Tisch lobt er als Erster den Wein und sagt ständig: „Wie köstlich es bei dir schmeckt!“, und indem er etwas vom Tisch aufhebt, spricht er: „Wie gut ist dies!“ Und er fragt, ob „er“ nicht friere und ob „er“ etwas umhaben wolle und ob er „ihm“ etwas umlegen solle. Dabei beugt er sich herüber und flüstert ihm etwas ins Ohr, und er blickt zu „ihm“ hin, wenn er sich mit anderen unterhält. Und er sagt, „sein“ haus sei ein schöner Bau, „sein“ Land sei schön bestellt und „sein“ Porträt lebensecht. Quelle: „Handbuch der Menschenkenntnis“ von Georg Brunold (Hg.)
Von Hans Klumbies