Trauer und Zorn sind nur schwer zu unterscheiden
Auch wenn die „Trauer“ herkömmlicherweise nicht unter die reaktiven Haltungen gerechnet wird, liegt sie doch dem Zorn so nahe. Deshalb geht Martha Nussbaum zunächst darauf ein, worin sie sich von ihm unterscheidet. Die Trauer ist genau wie der Zorn auf einen entstandenen Schaden oder Verlust gerichtet. Martha Nussbaum schreibt: „Dieser Verlust ist schmerzhaft. Und in diesem Schmerz besteht die zentrale Ähnlichkeit zwischen den beiden Emotionen. Die Trauer aber konzentriert sich auf eine Ereignis. Bei dem kann es sich um eine von einer Person begangene Tat handeln, aber auch um ein natürliches Ereignis wie beispielsweise den Tod oder eine Naturkatastrophe.“ Und sie konzentriert sich auf den von diesem Ereignis verursachten Verlust. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.
Bei der Trauer liegt der Fokus auf dem Verlust
Selbst wenn eine Person als Verursacher des Ereignisses gilt, liegt der Fokus auch weiterhin auf dem Verlust und richtet sich nicht etwa auf den Täter: Die Trauer macht nicht die Person zum Zielobjekt. Wenn es überhaupt ein Zielobjekt gibt, so ist es die verstorbene oder verschiedene Person. Die Frage der Unrechtmäßigkeit ist für die Trauer ebenfalls nicht zentral. Denn Verlust ist Verlust, egal, ob unrechtmäßig zugefügt oder nicht. Die Trauer trachtet nach der Wiederherstellung oder dem Ersatz des Verlorenen. Dagegen will der Zorn im Regelfall gegen den Täter vorgehen.
Die Trauer setzt bei der von dem Verlust hinterlassenen Lücke oder Leerstelle an, der Zorn bei dessen unrechtmäßiger Zufügung durch das Zielobjekt. Trauer und Zorn können selbstverständlich zusammen auftreten; manchmal lassen sich vielleicht schwer auseinanderhalten. Martha Nussbaum schreibt: „Nicht selten sucht eine trauernde Person jemanden die Schuld an dem Verlust zu geben, auch wenn die Beschuldigung keine sichere Möglichkeit bietet, die Kontrolle wiederherzustellen oder in einer Situation der Hilflosigkeit Würde zu behalten.“
Trauer kann in ungewöhnlich starken Zorn umschlagen
Das Umschlagen in Zorn allerdings bietet unter Umständen eine Möglichkeit, die verlorene Person oder Sache psychisch wiederherzustellen. In solchen Fällen kann die Trauer in einen ungewöhnlich starken Zorn umgelenkt werden, bei dem die ganze Energie der Liebe und des Verlusts auf die strafrechtliche Verfolgung gerichtet ist. Eine Quelle übersteigerten Zorns ist auch ein Widerwille gegen das Trauern und damit gegen das Eingeständnis der Hilflosigkeit. Das mühselige Aushandeln von Vergebung tritt häufig an die Stelle der Hilflosigkeit des Nachtrauerns.
Die Wiederherstellungsfantasie, die die Trauer oft begleitet, ist etwas Irrationales, wenn sie bestehen bleibt und das Leben der betreffenden Person in großen Teilen bestimmt. Martha Nussbaum weiß allerdings auch: „Die schmerzvolle Sehnsucht nach dem verlorenen Menschen lässt uns jedoch erkennen, welche immense Bedeutung er für uns hatte, und stellt somit eine wichtige Möglichkeit dar, unsere Lebensgeschichte als großes Ganzes zu verstehen und ihr entsprechend Sinn abzugewinnen.“ Lebt man sein Leben ohne Trauer weiter, ist es in sich unverbunden, ein Konglomerat von Versatzstücken. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum
Von Hans Klumbies