Seneca war der Erzieher des Tyrannen Nero
Wenn es um das Thema „Grausamkeit“ geht, dann ist bis zum heutigen Tag Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) ein einschlägiger Schriftsteller. Die historische Erfahrung, die Werken wie „De clementia“ oder „De ira“ zugrunde liegt, ist die Zeit der Herrschaft Kaiser Neros. Dieser hat im kulturellen Gedächtnis des Okzidents einen bleibenden Platz in der historischen Galerie der Tyrannen. Wolfgang Müller-Funk stellt fest: „Senecas Leben und Denken ist von der Figur und der Allgegenwart eines tyrannischen Herrschers bestimmt und überschattet. Auf Initiative von Neros Mutter aus der Verbannung befreit, wird er zum Erzieher ihres jungen Sohnes und zum Konsul.“ Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.
Grausamkeit stellt ein unbeherrschtes Verhalten dar
Zehn Jahre später zwingt ihn Nero, für den Menschen Spielbälle sind, zum Selbstmord. Üblicherweise übersetzt man „clementia“, die in Senecas fragmentarisch überlieferten Schrift als Gegenbegriff zu „crudelitas“ fungiert, im Deutschen mit „Güte“. Das ist irreführend, denn „clementia“ ist in diesem Diskurs ein rationales, überlegtes Verhalten, das nicht auf Empathie und Mitleid gründet. Denn diese Emotionen lehnt Seneca expressis verbis ab.
Wolfgang Müller-Funk erläutert: „Hingegen ist, wie aus „De ira“ hervorgeht, „crudelitas“ entweder irrational oder sie geht von einem strategisch falschen Herrschaftskalkül aus.“ Die gesamten philosophischen Überlegungen Senecas handeln weniger von der Güte als dass sie vom Thema der Affektsteuerung und -kontrolle bestimmt sind. Steckt doch im Wort „clementia“ die Konnotation des Temperierens und Mäßigens. Insofern ist das deutsche Wort Milde oder auch Besonnenheit besser geeignet als Güte. Die Grausamkeit von der Seneca spricht, ist seiner Ansicht nach schon allein deshalb zu verwerfen, weil sie ein unbeherrschtes Verhalten darstellt. Dieses ist einem Herrscher unangemessen.
Ein kluger Herrscher hat seine Affekte fest im Griff
Dagegen zeichnet sich der gute, kluge Herrscher dadurch aus, dass er all seine Begierden und Affekte, die sexuellen wie die aggressiven, fest im Griff hat. Diese Charaktermerkmale bilden die eigentliche Voraussetzung für seinen Erfolg. Die Texte des römischen Philosophen Seneca sind vor allem kleine Meisterwerke angewandter politischer Philosophie. Sein Buch über die „clementia“ gibt sich als eine Anleitung zum klugen, gerechten Regieren aus. Seine Schrift wendet sich an ein doppeltes Publikum: die an der „res publica“ interessierten Zeitgenossen und an den Herrscher.
An den Herrscher wendet sie sich durch eine eindeutig dialogische Struktur. Zwar ist über weite Strecken die angesprochene Person ganz allgemein gehalten, aber im Speziellen ist es doch immer wieder und unüberhörbar Nero, den Cicero wiederholt direkt anspricht. Wolfgang Müller-Funk erklärt: „Der Sprecher im Text schlüpft dabei in die Rolle des Ratgebers des Imperators Nero. Währen Augustus erst im Alter milde geworden sei, könnte Nero, so setzt die Schrift ein, das gleich von Anbeginn seiner Regierungszeit sein.“ Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk
Von Hans Klumbies