Grausamkeit ist „Gewalt im Quadrat“
Als naturwissenschaftlich geschulte Psychologin interessiert sich Kathleen Taylor für die Motive „hinter“ der Grausamkeit. Weniger hingegen möchte sie über die Diskurse wissen, die ihr Plausibilität und Legitimität verschaffen. Grausamkeit begreift sie als „Gewalt im Quadrat“. Deren Motive reichen unter anderem von der Dehumanisierung des und der Anderen, dessen sozialer Tötung bis zu dem Wunsch, den und die Anderen aus der eigenen Gruppe auszuschließen. Wolfgang Müller-Funk ergänzt: „Bei all diesen Motiven ist es für Taylor zentral, dass hier ein kollektives Moment in Gestalt der Masse Bedeutung erlangt. Sie betont zudem die Bedeutung der Alterität in diesem Zusammenhang.“ Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.
Stets sind die anderen das Übel
Erst durch die Alterität wird jene Dynamik der Potenzierung verständlich, die Grausamkeit als quadratische Form der Gewaltausübung erscheinen lässt. Kathleen Taylor betont die Bedeutung der Alterität für diese Form der Gewalt. Sie generiert Überlegenheit allein dadurch, dass sie das Gegenüber erniedrigt. Dadurch wächst der eigene Status in dem Maß, wie an dem anderen scheinbar ohne Widerstand Gewalt antun kann. Insofern bestätigt für Taylor die aggressive Handlung unfreiwillig die Selbstüberschätzung der eigenen Bedeutung.
Wolfgang Müller-Funk fügt hinzu: „Insbesondere bei der Konstruktion des und der Anderen, dem, verschärft sich in Krisenzeiten die Bedeutung von Status, Ehre, Vollzug und Vorteil dramatisch.“ In dieser Situation können bestimmte Formen radikaler Gewalt und auch ihre quadratische, das heißt exponentielle Steigerung freigesetzt werden. Die psychologische Falle besteht Kathleen Taylor zufolge darin, dass es stets die anderen sind, die man als bedrohlich vorführt. Sie sind das Übel, das es zu bekämpfen gilt und die Mobilisierung der Gewaltbereitschaft rechtfertigt.
Medea geht es um Ehre und Rache
Warum sind, fragt sich Taylor, Medea und Orest attraktiv? Weil man ihre Motive – Ehre und Rache – in diesem krisenhaften Kontext verstehen kann, auch wenn man die Tat als solche nicht billigen kann. Es ist die fremde Kultur und der eigene Mann, der Medea Anerkennung verweigert; eine Verletzung, auf die sie mit dem radikalen Akt der Tötung reagiert. Unter heutigen Bedingungen sei sie immer noch eine tragische Identifikationsfigur. Denn die Umstände drängten sie dazu, die Ermordung ihrer Kinder zur Bestrafung ihres Mannes zu begehen.
In dieser Interpretation kommt hinzu, dass Medeas Tat eine anti-patriarchale Selbstermächtigung darstellt, die man einer Frau ein einer männlich bestimmten Welt nicht zutraut. Wolfgang Müller-Funk erläutert: „Wo Rache und Vergeltung für erlittene Kränkung ein steigerndes Moment in sich tragen, nähern sie sich dem Phänomen der Grausamkeit an. Nicht umsonst heißt es, dass jemand grausame Rache an einem Menschen nimmt, der ihn gekränkt und verletzt hat.“ Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk
Von Hans Klumbies